Rilke und das Wallis

Annäherung ans Wallis

Nach einem ruhelosen Leben, das ihn durch viele Länder Europas geführt hat, findet Rilke im Wallis eine Landschaft und eine schützende Zuflucht, die ihm nach dem Ersten Weltkrieg ein «Wiederanheilen» ermöglicht und zu neuen schöpferischen Impulsen verhilft.
Der seit 1919 in der Schweiz weilende Dichter hatte Sion (Sitten) und Sierre (Siders) schon 1920 besucht. In Genf hatte er Gemälde von Alexandre Blanchet bewundert, die den Markt in Sitten und die Weinlese im Wallis darstellen.
Im Juni 1921 erneuert er diese Fahrt zusammen mit seiner Freundin Baladine Klossowska. In Sierre steigen sie im Hotel Bellevue ab und machen sich auf die Suche nach einer Bleibe. Kurz vor ihrer Abreise entdecken sie in einem Schaufenster den Hinweis auf ein kleines mittelalterliches Schlösschen, das Château Muzot, das zu mieten oder zu kaufen ist. Rilke besichtigt den Ort und ist bei allem Zögern begeistert. Auf Rilkes Ersuchen mietet sein Gönner Werner Reinhart das Schlösschen und erwirbt es im Jahr darauf.
Rilke bedarf der Ruhe und der Einsamkeit. Muzot ermöglicht ihm den Anschluss an die literarische Produktivität seiner Vorkriegsjahre.


Rilke im Wallis: erste Eindrücke

Rilke ist überwältigt von der Walliser Landschaft. In einem Brief an Marie von Thurn und Taxis fasst er am 25. Juli 1921 seine Eindrücke zusammen:

«[…] was mich aber auf der anderen Seite hält, ist dieses wunderbare Valais: ich war unvorsichtig genug, hier herunter zu reisen, nach Sierre und Sion; ich habe Ihnen erzählt, einen wie eigenthümlichen Zauber diese Orte auf mich ausübten, da ich sie voriges Jahr, um die Zeit der Weinlese, zuerst sah. Der Umstand, daß in der hiesigen landschaftlichen Erscheinung Spanien und die Provence so seltsam ineinander wirken, hat mich schon damals geradezu ergriffen: denn beide Landschaften haben in den letzten Jahren vor dem Krieg stärker und bestimmender zu mir gesprochen als alles übrige; und nun ihre Stimmen vereint zu finden in einem ausgebreiteten Bergthal der Schweiz! Und dieser Anklang, diese Familienähnlichkeit ist keine Imagination. Noch neulich las ich in einem Abriß über die Pflanzenwelt des Wallis, daß gewisse Blumen hier auftreten, die sonst nur in der Provence und in Spanien vorkommen; ein gleiches ists mit den Schmetterlingen; so trägt der Geist eines großen Stromes (und der Rhone ist mir immer einer der wunderbarsten gewesen!) die Begabungen und Verwandtschaften durch die Länder.»

Gleich nach seiner Ankunft im Sommer 1921 macht sich Rilke auch mit der Geschichte und der Kultur seiner neuen Umgebung vertraut.


Der Turm von Muzot

Im Leben und Werk Rilkes spielten Türme zeitlebens eine bedeutsame Rolle. Sie säumten gleichsam seinen Lebensweg bis hin zur Entdeckung des Wohnturms von Muzot. Was der Dichter in dieser Lebensphase braucht, ist ein Rückzugsort, eine mönchische Klause der Einsamkeit, die ihm den Abschluss der «Elegien» ermöglicht, die er 1912 in Duino, als Gast der Fürstin von Thurn und Taxis, begonnen hatte.

«Und nun zieh ich morgen hinaus und mache einen kleinen Wohnversuch in diesen etwas harten Burgverhältnissen, die sich einem anlegen wie eine Rüstung!»

An Marie von Thurn und Taxis, 25. Juli 1921

«[…] sollte alles stimmen, so könnte ich dann eine Weile mit einer Wirtschafterin auf Muzot hausen. Es liegt etwa zwanzig Minuten, ziemlich steil überhalb Sierre, in einer weniger ariden, glücklichen, von vielen Quellen durchstürzten Ländlichkeit, – mit Ausblicken ins Thal, auf die Berghänge und in die wunderbarsten Tiefen des Himmels. Ein kleines ländliches Kirchlein, etwas links überhalb in den Vignen gelegen […], gehört auch dazu.

An Marie von Thurn und Taxis, 25. Juli 1921


Krankheit und Tod

Von 1923 an machen sich physische Leiden in immer stärkerem Mass bemerkbar. In diesem Jahr weilt Rilke zur Kur in Schöneck am Vierwaldstättersee, Ende Dezember und Anfang Januar 1924 hält er sich zum ersten Mal in der Klinik von Val-Mont sur Territet bei Montreux auf. Seine Erkrankung zwingt ihn zwischen 1924 und 1926 zu weiteren, zum Teil mehrmonatigen Aufenthalten in Val-Mont. In diesen Jahren kommt es auch zu drei Aufenthalten in Bad Ragaz. Seine – damals nicht zu heilende – Leukämie wird erst gegen Ende seines Lebens diagnostiziert.

Rilke stirbt am 29. Dezember 1926 in Valmont. Er wird am 2. Januar 1927 bei eisiger Käalte auf dem Friedhof von Raron beigesetzt. Bei der Beerdigung spielt Alma Moody Bach.


Sein Letzter Wille: Raron als Bestattungsort

Schon 1925, genauer: am 27. Oktober 1925, schreibt Rilke „einige persönliche Bestimmungen“ nieder „für den Fall einer mich mir mehr oder weniger enteignenden Krankheit“. Darin hält er namentlich fest:

„[…] ich zöge es vor, auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogne zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfriedigung gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe, zusammen mit allen den Versprechungen, die sie mir, mit und in Muzot, später sollte verwirklichen helfen.“

Der von ihm selbst gewünschte Grabspruch, der zu zahlreichen Deutungen Anlass gab, lautet:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

Wohl gegen Mitte Dezember 1926 schrieb Rilke in Val-Mont als letzte Eintragung im letzten Taschenbuch das folgende Gedicht:

Komm du, du letzter, den ich anerkenne,
heilloser Schmerz im leiblichen Geweb:
wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne
in dir; das Holz hat lange widerstrebt,
der Flamme, die du loderst, zuzustimmen,
nun aber nähr’ ich dich und brenn in dir.
Mein hiesig Mildsein wird in deinem Grimmen
Ein Grimm der Hölle nicht von hier.
Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg
ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen,
so sicher nirgend Künftiges zu kaufen
um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg.
Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?
Erinnerungen reiß ich nicht herein.
O Leben, Leben: Draußensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.

– Orig.

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